Widerhall und Erscheinung
W?hrend die chinesischen Zeichen als sogenannte Ideogramme verschriftete Ideen darstellen, ist das lateinische Schriftsystem phonographisch und repr?sentiert die Aussprache der W?rter. W?hrend man die Bedeutung des Namens von Schang Kit auch heute noch mit seiner Aussprache als Cang Jie verstehen kann, sind die Bedeutungen der meisten deutschen Namen heutzutage selbst ihren Tr?gern unbekannt. So kommt es, dass Kinder nicht mehr Clothilde genannt werden. Es geh?rt nicht mehr zum guten Ton.
Der sch?ne Klang besitzt in phonographischen Sprachen eine gro?e Bedeutung. Dabei ist er stets Ausdruck des Individuums, eine Interpretation der Wirklichkeit aus der Perspektive eines einzelnen Betrachters und damit einerseits gepr?gt durch eine gewisse Intimit?t und andererseits durch das Fehlen eines Absolutheitsanspruchs.
Jene W?rter in vielen phonographischen Systemen, die in direktester Beziehung zum Dargestellten stehen, haben ungegenst?ndliche Laute als Ursprung. Das Ticktack der Uhren und Miauen der Katzen sind Formen der Onomatopoesie, der Lautmalerei. Sie entspringen dem Dargestellten selbst und stehen als Ideophone, vertonte Ideen, den ideographischen chinesischen Schriftzeichen relativ nah.
Im Gro?en und Ganzen ist Deutsch jedoch eine expressionistische Sprache, die ausdrückt, was der Sprecher denkt und fühlt. Statt wiederzugeben, was die Spatzen von den D?chern pfeifen, werden Eindrücke zu Ausdrücken verarbeitet und verlautbart. Chinesisch ist hingegen eine eher impressionistische Sprache, welche Wirklichkeit ohne F?rbung eines Ichs an andere weitergibt.
Manchem Westler k?nnte das auch als Erkl?rung dafür herhalten, dass man in China des ?fteren Zeuge einer Extremform des Smalltalks werden kann. Es ist nicht ungew?hnlich die Nachbarin um 7 Uhr morgens im Fahrstuhl zu fragen, ob sie zur Arbeit geht und ob sie den Bus dafür nimmt, der gleich gegenüber h?lt. So weit, so gew?hnlich. Doch dass sich diese als Fragen getarnten Feststellungen nach dem Feierabend wiederholen, den Rest der Woche (des Monats, des Jahres) fortgeführt werden und kein Ende zu nehmen scheinen, das ist dann doch erstaunlich. T?glich grü?t die Nachbarin.
Ein Selfie in der Seelenlandschaft
Cang Jie nutzte einst seine vier Augen dazu, in die Welt hinaus zu schauen, sie zu erkennen und zu (be)schreiben. Er hat die Schrift damit also eigentlich nicht erfunden, sondern gefunden und zwar in der Welt.
Die Sticker der Handy-Generation sind nun freilich nicht direkt der Realit?t entnommen. Soweit der Redaktion von People’s Daily Online bekannt, sind Pferde und Fr?sche nicht gleich gro? und auch keine allzu guten T?nzer. Doch dass die Sticker nichts abbilden, nicht gefunden wurden, l?sst eine weitere M?glichkeit aus den vier Augen, aus dem Sinn.
Mit seinen zwei Augenpaaren konnte Cang Jie einer Interpretation nach zugleich in die Welt hinaus- und in den Himmel hinaufblicken, den Ursprungsort der kosmischen Gesetze. Vielleicht hat ihn das jedoch auch davon abgehalten, sich der intensiven Nabelschau hinzugeben. Wenn wir die Augen schlie?en und ausnahmweise nicht horchen, sondern in uns hineinsehen, k?nnen wir ihn da nicht ausmachen? Ein kleiner Cang Jie steckt doch in uns allen und flaniert durch die Seelenlandschaft. Seit einiger Zeit hat er nun auch ein Handy und macht flei?ig Bilder von den tanzenden Fr?schen und Pferden, vergnügten Teletubbies und urigen Eierwesen der menschlichen Gefühlswelt.
Gesellschaftlicher Kitt in der festgeschriebenen Eiszeit
Bei der Vermittlung unserer ganz pers?nlichen Befindlichkeiten, unseres wahren Selbst, verl?sst man sich gern auf die Wortgewandtheit, Anmut und den Wohlklang anderer. Das gilt für Gedichte, Gem?lde und Musik sowie auch für digitale Aufkleber. Die meisten Stickeralben sind kostenlos und lassen sich durch einfaches Antippen herunterladen. Sie verleihen emotionale Eloquenz, ohne sich mit der Beschreibung des eigenen Seelenlebens abplagen zu müssen. Nichts vermittelt die Liebe zur Natur so sehr, wie Millionen für einen Monet auszugeben, statt ein Fenster zu bauen. Und so sind die Fenster zur Seele heutzutage eben mit Stickern geschmückt.
Dass sich die elektronischen Haftbildchen so sehr von den nüchternen Schriftzeichen unterscheiden, liegt in der verwendeten Darstellungsweise begründet. W?hrend sie vor Jahrtausenden noch geritzt und sp?ter mit Pinseln gemalt wurden, werden sie heute mit elektronischer Hilfe gesetzt. Chinas ?ffnung und Aufstieg seit den 80er Jahren l?sst zu einem Teil auch mit der Verbreitung der Computertechnik und Digitalisierung der Schrift in Verbindung bringen. Den Herausforderungen für die Verwaltung von über einer Milliarde Menschen konnte dadurch erheblich effektiver begegnet werden.
Da sich das Schriftbild der verwendeten Schreibmethode angleicht, unterliegen moderne Sticker nur noch wenigen Einschr?nkungen. Rein hypothetisch lie?e sich Chinesisch heute auch als eine Abfolge vollfarbiger animierter Bilder schreiben. Wir haben die Technologie. Doch wie andere Aspekte der Sprache vereinheitlichen und konservieren die Medien und Schulen neben der Grammatik und dem Wortschatz auch das Schriftbild. Zum Revolution?rsten im deutschsprachigen M?glichkeitsraum z?hlt daher vielleicht noch die Einführung eines Versal-Eszetts.
Dass die Sticker gerade zur digitalen Eiszeit der schriftlichen Entwicklung aufkommen, l?sst einem besonders warm ums Herz werden, zeigen sie doch, dass die Kommunikation als einer der wichtigsten Indikatoren des menschlichen Fortschritts nicht nur in ihrer Geschwindigkeit, ihrem Informationsgehalt, ihren Ausdrucksformen, sondern auch in ihren grunds?tzlichen Bestandteilen best?ndig zunimmt. Durch Mitteilungsplattformen im Internet und auf mobilen Ger?ten stehen wir 24 Stunden mit der Welt in Verbindung. Frei nach Watzlawick wird es immer nicht nicht leichter, nicht nicht zu kommunizieren.
Schlusswortlosigkeit
Kunstwerke – z?hlen wir Kallikollien einmal gro?zügigerweise zu ihnen – geh?ren im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit zugleich allen und niemandem. Sie verhalten sich wie Wortsch?tze, die sich nicht verkleinern, wenn man sie teilt, sondern alle reicher werden lassen.
Weil die Sticker als eine Art Sprache benutzt werden, l?sst sich kein Monopol auf einzelne von ihnen aufrechterhalten. Neue oder noch unbekannte Sticker lassen sich von jedem Handynutzer bequem abspeichern und der eigenen Galerie, dem modernen Stickeralbum, hinzufügen. Den Monet gibt es heute ganz ohne Moneten.
Dass Emotionen und Reaktionen heute gesucht, getauscht und stolz pr?sentiert werden k?nnen, sollte kein Grund zur Besorgnis sein. Leben und aufkleben lassen, hei?t das Motto. Die Sticker erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion und befriedigen im wahrsten Sinne des Wortes das Mitteilungsbedürfnis. Auf den Spuren Cang Jies wandelnd, um die Geheimnisse der Sch?pfung zu erkunden, hat sich der Blick nach innen gerichtet und gibt zum Wohle einer Gesellschaft mit unbeschr?nkter Haftung sprachlos gefühlvoll wieder, was uns gemeinsam im Innersten zusammenh?lt.
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